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Annette Wassermann (Hrsg): Wieder lügt Odysseus

  656 Wörter 2 Minuten 1.241 × gelesen
2017-02-12 2017-04-24 12.02.2017

Ins Museum geht, wer sich nicht ins Bordell traut? könnte Motto für die Geschichten aus dem neuen Griechenland sein. Ach, wenn es Jannis Ritsos, aus dessen Lebenserkundungen dieses Aperçu stammt, doch vergönnt wäre, dass ein paar Fans mehr anstelle der Versteinerungen das leibhaftige Hellas lieben lernten! Gewiss, im Buchtitel wird darauf angespielt, grandfather Odysseus, der vielgereiste, listige, er flunkert wie eh und je. Möglicherweise kommt seine Lügennatur in unseren Zeiten des über alles Aufgeklärt- und rundum Informiertseins sogar erst richtig zum Zug. Doch wenn einer deshalb lieber in der Vergangenheit hocken bleiben wollte, wird es ihn schocken, sobald er die Augen auf- und er mitkriegt, dass die Uhr an seiner Wand wie ein Ventilator rotiert, als hätte jemand auf eine fast-forward-Taste gedrückt (schöne metaphorische 2 ½-Seitenskizze von Pantelis Kontojannis). Modernes Zeitempfinden heißt spätestens seit den 50er Jahren auch für Odysseusnachfahren: du isst deine Würstchen in Köln, und mit einem Bier in Thessaloniki spülst du sie runter. Was will es dann (wie bei Christoforos Milionis) schon besagen, dass geräucherter Hering mit Marmelade selbst in der Verfeinerung als Matjes auf Apfelscheiben mit Schlagsahne und Wildpreißelbeeren sich den Papillen der griechischen Zunge nie und nimmer erschließen wird? Dass obendrein Freunde, egal ob an Rhein oder Alster, die Rechnung, nachdem sie beim Bier zusammen gesessen haben, Cent für Cent aufteilen, das wird alla greca ohnehin auch weiter als fremdländische Untugend empfunden werden. Denn soviel ist sicher: Völlig flöten gehen darf das eigene Ich auf keiner Europa-Safari, ein Rest an Selbstachtung muss unbedingt erhalten bleiben. Und das Gejammer über die Mädels in Deutschland, die einem das Leben zur Hölle machen können, ist daheim über die eigenen sowieso dasselbe. Ein paläolithisches Relikt, ungefähr seit die Götter mit Pandora die erste Frau und - zumindest mit der eherechtlich angetrauten - zugleich den Anfang allen Übels geschaffen haben.

Immerhin, Europa zugehörig weiß man sich heute selbst in Tripolis, Amfissa oder Xanthi. Was keineswegs von jeher so gewesen ist. Um gemeinsam mit der verwitweten Mutter irgendwann mal aus seiner Provinz raus zu kommen, träumt (bei Pavlos Matessis) ein liebes Töchterchen von einer Reise ?nach Europa?. Ansonsten heißen nämlich Städte, wo die besser situierten Onkels und Tantens leben bzw. einst gelebt haben, Konstantinopel, Smyrna, Tartus. Eine Geschichte, von deren Unwahrscheinlichkeit nur überzeugt ist, wer nichts außerhalb des klaren Verstandes gelten lässt, handelt von einer mysteriösen, einen märchenhaften Schatz verheißenden Begegnung in einem Kafenion- mitten im ägyptischen Alexandria (von Konstantinos Kavafis). Halbwegs verblasst ist mittlerweile das Klischee vom Griechen, der nicht von seinem unendlichen Hass auf den Türken loskommt. Bei Dimosthenes Kurtovik wandert einer mit seiner Flamme über die Weekend-Ägäisinsel A. hinwärts auf einem Pfad, der - wen hätte ähnliches nicht schon selber irritiert? - heimwärts als ein gänzlich anderer erscheint. Als im Abendlicht unversehens ein Brunnen auftaucht und überdies ein undefinierbares Keuchen zu vernehmen ist, ein Brunnen, der, man könnte schwören, in der hellen Sonne nicht vorhanden und dessen türkische Inschrift infolgedessen auch nicht ins Auge gesprungen war, spätestens da wird es spökenkiekerig. Selbst so unromantische Typen wie hier die beiden Strollers fangen an, sich unbehaglich zu fühlen, als schließlich ihr Herbergsvater aus vergilbten Blättern vorliest, dass es die Liebste dessen, der des Türkenbrunnens ansichtig geworden sei, unweigerlich verschlagen werde - siehe oben, d. h. nicht in eins der Museen von Athen.

Durchaus denkbar, dass?Wieder lügt Odysseus am Ende verstanden wird: mit diesen Geschichten (am wenigsten noch mit Elli Alexius?Am heiligen Ort) wird ein weiteres Mal über die herrschende Wirklichkeit hinweg gelogen. Und doch ist der andere griechische Blick, der sich - auch über Europa hinaus - auf die Gefühlslagen rings ums Mittelmeer richtet, zweifellos ein Gewinn. Insofern hat der ansonsten auf Italien fixierte Wagenbach-Verlag hier durchaus einen Treffer gelandet, und zwar nicht nur mit dem Wiederabdruck schon älterer Texte, sondern sogar (vor allem dank der emsigen Birgit Hildebrand) mit einigen wenigen dt. Erstübersetzungen: Neni Efthimiadi, Pantelis Kontojannis, Amanda Michalopoulou, Christoforos Milionis.

Wieder lügt Odysseus. Geschichten aus dem neuen Griechenland.
Zusammengestellt von Annette Wassermann.
Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2002.
140 S. ISBN 3-8031-2438-7

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